Sam war sich nicht sicher, ob es ein gutes Zeichen oder das Zeichen einer kommenden Katastrophe war, aber er wusste …
… es war ein Zeichen. Ein göttliches Zeichen, geschickt, um seine Aufmerksamkeit zu erregen. Und um ihn an das zu erinnern, worauf es wirklich ankam – an das Wesentliche, das Einzige mit Bedeutung. Warum sonst hätte sich ausgerechnet heute, ausgerechnet hier und ausgerechnet vor seinen Augen dieses Schauspiel zugetragen. Jetzt und hier. Wo er doch eigentlich jetzt gar nicht hier sein sollte und wollte, sondern längst beim Einchecken auf dem nahegelegenen Flughafen. Sollte er und wollte er, wenn nicht alles an diesem merkwürdigen Morgen anders gelaufen wäre, als geplant. Anders, als an allen anderen 364 Tagen des vergangenen Jahres. Erst hatte er durch einen kurzen nächtlichen Stromausfall, dem sein altmodischer Radiowecker zum Opfer gefallen war, gründlich verschlafen. Dabei wurde er sonst auch ohne Wecker-Klingeln jeden Tag pünktlich um 5:15 Uhr von selbst wach; ganz ohne, dass es einfallender Sonnenstrahlen oder Vogelgezwitschers aus dem kleinen Park bedurfte, der direkt vor dem Hochhaus verlief, in dem sich seine beschauliche 2-Zimmer-Küche-Naßzelle-Wohnung befand. Ganz ohne, dass es des Straßenlärms von der 4-spurigen Schnellstraße bedurfte, die hinter dem Hochhaus lag. Immer wurde er von alleine überpünktlich wach. Nur heute nicht. Heute hatte er, ohne das vertraute Summen des fast lautlos gestellten Weckers, einfach und tatsächlich verschlafen. Vielleicht wäre er sogar wach geworden, wenn auch sie wach geworden wäre. Neben ihm. Sie, die Liebe seines Lebens. Wie an jedem anderen Tag. Vielleicht hätte sie das Summen des Weckers nicht gebraucht, um wach zu werden. Und hätte ihn geweckt. Rechtzeitig. Doch sie war nicht da gewesen. Hatte nicht vertraut neben ihm gelegen, so dass er ihren gleichmäßigen, leisen Atemzügen beim Einschlafen hätte lauschen können. Hatte sich nicht des Nachts wohlig an ihn gekuschelt und dabei im Tiefschlaf mit der Oberlippe nach jedem 6. Atemzug leicht gewackelt. Hatte ihm nicht die Möglichkeit gegeben, ihr süßes Grübchen in der Kinn-Mitte, das nur auffiel, wenn man sie im Schlaf aus einem ganz bestimmten Winkel beobachtete, zu streicheln. Sanft – ohne sie dabei zu wecken. Hatte nicht ihre rehbraunen Augen, die so gut zu ihren leicht südländischen, ebenen Gesichtszügen, der Stupsnase und den tiefschwarzen Haaren passten, nach ihm gedreht, als er sich aus dem Bett gequält hatte, um seinen sportlichen, 1,88 cm
großen, Rugby-gestählten Körper mit den rasierten Brusthaaren unter die Dusche zu verfrachten. War nicht hinter ihm hergekommen, um sein markantes, „drei-Tage- Bart“ gewohntes Kinn wegen des so wichtigen Termins
für ihn unter der Dusche zu rasieren, bevor sie mit ihm schnell noch …
Nichts von dem hatte sie heute getan. Sie hatte nicht einmal mitbekommen, dass der Strom und damit auch der Wecker in der Nacht ausgefallen waren. Denn sie war weg. Nach dem heftigsten Streit, den ihre junge Liebe in den letzten Monaten erlebt hatte. Mit all ihrem südländischen Temperament hatte sie ihm in sein nordisch-klassisches Gesicht geschaut und dann lauthals wild geschimpft, geflucht und geweint, ihm vor Wut ein Büschel seiner recht vollen, blonden Mähne vom Kopf
gerissen, ihre Tasche geschnappt und war dann, ohne ihm ein einziges Abschiedswort zuzurufen, einfach verschwunden. Hatte die Wohnungstüre donnernd vor seiner Nase zugeknallt.  So heftig war ihre Auseinandersetzung gewesen, dass die, selbst sehr lauten und streitbaren, Nachbarn beider Seiten abwechselnd gegen die Zimmerwände geschlagen und
Ruhe verlangt hatten. Sie war gegangen, gestern Abend und er hatte sie ziehen lassen. War ihr nicht hinterhergeeilt, um sich zu entschuldigen oder sie zur Vernunft zu bringen. Oder zumindest, um sie um Verständnis zu bitten für die Bedeutung, die dieser Termin für ihn hatte. Für sie beide. Für ihre gemeinsame Zukunft. Für den Start in ein anderes, besseres Leben. In einem Umfeld, in dem sie sich nachts so lange streiten konnten, wie sie es wollten, ohne dass Nachbarn durch die viel zu dünne Wände jedes ihrer Schimpfworte hörten. In dem Kinder behütet aufwachsen konnten. Er hatte es gar nicht erst versucht, ihr doch noch zu sagen, dass er dies alles für sie, für sie beide wollte und darum nicht anders konnte, als heute zu gehen. Zu verletzt war er gewesen, weil sie sein tagtägliches Kämpfen für ihre gemeinsame Zukunft nicht wahrnahm. Zu stur, um den ersten Schritt zu machen – aus Liebe – und zu wütend angesichts der Vielzahl unflätiger Beleidigungen, die er hatte über sich ergehen lassen müssen. Zu beleidigt, als dass sein hanseatisch-kühler Kopf ihm gestattet hätte, sie aufzuhalten. Das hatte er jetzt von seiner Verbohrtheit. Er hatte verschlafen, weil sie ihn nicht hatte rechtzeitig wecken können. Stattdessen war er irgendwann von alleine aufgewacht. Hatte neben sich nur den kalten Bezug eines unbenutzten Bettes gefühlt. Und sie vermisst. Wahnsinnig vermisst. Und war in Panik geraten, weil sie nicht zurückgekommen war. Und weil er verschlafen
hatte. Ausgerechnet heute. Voller Aufregung und Hektik hatte er sich dann auch noch beim Rasieren geschnitten, so dass er sich das weiße Hemd mit Blut ruiniert hatte. Selbst schuld, wenn man sich wie ein Steinzeit-Mensch heutzutage noch nass rasierte. Und ebenso selbst schuld, wenn man dies tat, während man schon angezogen vor dem Spiegel stand. Und noch mehr selbst schuld, wenn man dabei das einzige gebügelte, weiße Hemd trug, das man noch im Schrank hängen hatte. Und echt mies, wenn keiner da war, der einen tröstete. Und schnell noch ein neues Hemd bügelte. Während man sich selbst in Ruhe fertig machen konnte.
Eigentlich war sie auch daran schuld, genauso wie am Verschlafen, hatte er gedacht, als sich die rote Soße genüsslich auf der rechten Schulter seines Designer-Hemdes ausgebreitet hatte und dann liebevoll tief in jede Gewebefaser eingedrungen war. Schließlich war es ihre Aufgabe, ihm morgens unter die Dusche zu folgen, ihn – dann noch weit entfernt von jedem blütenweißen Oberhemd – mit ihren feingliedrigen Fingern sanft zu liebkosen, zu rasieren und …
Aber auch das hatte sie heute nicht getan. Sie war ja nicht zurückgekehrt, dieser Sturkopf, diese wundervolle, heißblütige, wilde Amazone. Sie war schuld, hatte er gedacht. An allem. Trotzdem wäre er vielleicht noch rechtzeitig zum Flughafen gekommen, nachdem er ein anderes, blaues Hemd aus dem Schrank genommen und sich blitzschnell umgezogen hatte. Das sie vor ein paar Tagen für den heutigen Abend gebügelt hatte. Als noch alles gut war zwischen ihnen. Und als
es dieses Angebot für ihn noch nicht gegeben hatte. Als alles noch so selbstverständlich, so problemlos, so richtig und so gemeinsam gewesen war. Als sie noch da war, um zu bügeln. Zu trösten. Zu rasieren. Zu wecken. …
Zwischenzeitlich war es ihm gelungen, die Blutung der, doch recht tiefen, Schnittwunde in seinem Gesicht mit einem Blut-Still-Stift zu stoppen. Wieder so ein Relikt aus einer anderen Zeit, hatte er gedacht, als er diesen befeuchtet und anschließend über den Schmiss am Kinn sorgfältig hin und her gerollte hatte.
Antiquiert, aber nützlich, hatte er gedacht und sich im selben Moment gefragt, ob er ebendas war, wie dieser Stift: antiquiert, aber doch irgendwie nützlich.
War er das wirklich? Antiquiert. Und doch nützlich. Oder war er einfach nur unsensibel, verständnislos, rücksichtslos? Zu ihr. Nur, weil er ihr ein besseres Leben bieten wollte. Und bereit war, dafür Opfer zu bringen. So wie heute. Für sie. Für ihre gemeinsame Zukunft. Oder weil er sie nicht aufgehalten hatte. Weil er sie hatte gehen lassen – trotzig, wie ein beleidigtes Kind. Und scheinbar rücksichtslos. Kompromisslos. Kalt. Da er erneut keine Antwort auf diese quälenden Fragen fand und die Zeit immer mehr drängte, hatte er sich seinen, eigentlich zwingend notwendigen, zweiten Kaffee geschenkt. Den ersten, ohne
den er morgens kein Mensch war, hatte er während des (blutigen) Rasierens am Waschbecken getrunken. Danach war er nur noch verhalten optimistisch in sein Auto gestiegen. Ihres fehlte an seiner Seite in der Garage. Anders als an jedem anderen Tag. Ihr vertrauter, grüner Mini neben seinem alten, dreckverschmiert-roten Focus hatte ihm gefehlt. Sofort. Und das ausgerechnet heute. Wer hatte ahnen können, dass sein Wagen, zum ersten Mal in 15 Jahren, nicht anspringen wollte. Einfach nicht anspringen wollte. Zum wirklich allerallerersten Mal. Als  er alleine war. Mit Termindruck. Und kein anderes Auto verfügbar. Sie nicht. Und die Nachbarn auch nicht. Darum hatte er auch kein Überbrückungskabel finden können, so dass er tatsächlich urplötzlich auf Taxi oder Bus angewiesen gewesen war. Ob sie ihn gefahren hätte? Oder ihm wenigstens ihr Auto gegeben hätte. Ob sie vielleicht doch mit zum Flughafen gekommen wäre? Wenn er etwas getan, wenn er um sie gekämpft, sich mit ihr ausgesprochen hätte? Fragte er sich. Und, ob er dann noch rechtzeitig dort angekommen wäre? Ob sie ihren Cousin, den Taxifahrer, erreicht hätte und der ihn noch rechtzeitig zum Flughafen hätte fahren können? Den er selbst nicht hatte anrufen können, weil er sicher schon von ihrem Streit gehört hatte und sich auf ihre Seite geschlagen hätte. Ganz bestimmt. Darum hatte er selbst versucht, irgendwie einen Transfer zum Flughafen zu organisieren. Rechtzeitig. Nach geschlagenen 10 Minuten in diversen Warteschleifen aller ortsansässigen Taxi-Unternehmen hatte er sich schließlich, verzweifelt und mit den Nerven beinahe schon am Ende, sein Reisegepäck aus dem Kofferraum geschnappt und war zur Bushaltestelle zwei Straßen weitergelaufen. Genau in dem Moment war er losgeeilt, als sich außerhalb der Tiefgarage ein Platzregen ungeahnten Ausmaßes zu ergießen begann. Er hatte den Regen ignoriert und war gerannt.
Obwohl er den Koffer zu schleppen hatte, war er gerannt. Mitten durch das Unwetter. In seinem blauen Hemd. Das seinen guten, aber nicht mehr ganz so modernen, leicht „abgeliebten“ Anzug so unaufdringlich aufwertete. Das alles hatte er getan, nur, um dann die Rücklichter des Busses gerade noch um die nächste Straßenecke versschwinden zu sehen. Die Wartezeit bis zum Eintreffen des nächsten betrug geschlagene 35 Minuten – von denen er exakt 3 ½  hinter sich gebracht hatte, als sich vor seinen Augen das Spektakel abzuspielen begann, dem er noch immer gebannt folgte. Ob der Busfahrer gehalten hätte, wenn er sie hätte hinterherlaufen sehen, dachte er, als er sie genauer anschaute. Sie war exakt eine ½ Minute nach ihm an der Haltestelle eingetroffen. Sie, die Zarte, Elfengleiche. Mit ihrem blassen Teint. Außerordentlich leicht bekleidet mit ihrer roten Bluse, der dünnen, weißen Stoffhose, ohne Jacke oder Pullover. Zu leicht bekleidet für die Jahreszeit, dachte er. Ihre Haare, die achtlos mit einem einfachen roten Haushaltsgummi nach hinten gebunden waren, trieften vom Regen. Ihr Gesicht war tränenüberströmt. Die wenigen Habseligkeiten, die sie bei sich trug, sahen längst regendurchfeuchtet und leicht verdreckt aus: eine kleine, gift-grüne Stoffhandtasche, die farblich überhaupt nicht zu ihrer übrigen Garderobe passte und ein geschmacklos-lila-farbiger Kunstlederrucksack mit unzähligen Gebrauchsspuren und Macken. Der schwarze Herren-Schirm, den sie unter den linken Arm geklemmt hatte, war kurz vor dem Wartehäuschen noch von einer Windböe erfasst und nach hinten gebogen worden. Der traurige Anblick des Schirms und seiner Besitzerin hatten nicht nur seine Aufmerksamkeit erregt, sondern auch sein Mitleid. Doch noch bevor er sie hatte fragen können, ob er ihr vielleicht helfen könne, hatte ein knallroter „Drei-Türer“, mit schwarz abgesetztem Verdeck und quietschenden Reifen in der Bushaltebucht angehalten. Ein kahlköpfiger, ebenfalls mit einer schwarzen, ausgeleierten Trainings-Shorts, einem dünnen, weißen Sport-T-Shirt und Badeschlappen nur leicht, sehr leicht bekleideter Mann war herausgesprungen und auf die noch immer schluchzende, junge Frau zugestürmt. Unter Tränen hatte er sich bei ihr entschuldigte. Ihr versichert, dass es ihm leidtue. Beteuert, wie sehr er sie liebe und dass so etwas nie wieder passieren werde. Während sie noch sichtlich mit sich kämpfte, ob sie seinen Worten glauben sollte oder nicht, war er vor ihr auf die Knie gegangen. Mitten im Regen. An der Bushaltestelle. Und in Sichtweite von ihm, dem Fremden, mit dem Schmiss im Gesicht, der exakt 5 Minuten zuvor mit seinem Gepäck – fluchend – den letzten Bus hatte wegfahren sehen. Vor ihr, die seit genau 90 Sekunden seine ganze Aufmerksamkeit besaß. Mitten in einer Pfütze hatte er sich hingekniet, der Glatzkopf. Hatte aus der linken Tasche seiner kurzen Hose ein kleines Kästchen heraus gefingert. Und sie gefragt. DIE Frage gestellt.
Mitten im Regen. Vor ihm. Dem Verlassenen. Kampflosen. Resignierten. Trotzigen. Der sich gerade in diesem Moment gefragte hatte, ob die Glatze des Anderen nicht längst tiefgefroren sein musste und wer überhaupt an einem solchen Tag noch mit kurzer Hose nach draußen ging. Bei diesen Temperaturen. Und bei diesem Wetter. Und wie die Glatze dieses zarte, weibliche Wesen wohl verletzt hatte? Hatte er es so perfekt getan wie er selbst? Hatte er sie hintenangestellt? Für einen Job? Hatte er ihr ebenfalls mehr bieten wollen als das hier? Eine bessere, eine gemeinsame Zukunft? Um jeden Preis? Hatte sie ihn trotzdem auch gebeten gehabt, nicht zu fahren? Nicht heute – nicht ausgerechnet heute? Hatte sie gesagt, der Preis dafür sei zu hoch. Wenn er führe. Heute, ausgerechnet heute. Hatte sie ihm auch gesagt, kein anständiger Mensch zwinge seine Mitarbeiter heute dazu, die Familie zu verlassen. Hatte sie ihn angefleht, zu bleiben? Hatte sie geweint, geschimpft, geflucht? Welche
Schimpfwörter hatte sie ihm wohl an den Kopf geworfen, bevor auch sie verzweifelt ihr Köfferchen gepackt und ihn verlassen hatte? Hatte er ihr vorher auch versucht zu erklären, wie wichtig diese Chance für ihn war? Für sie beide war? Warum er diesen Termin wahrnehmen musste?  Musste – für sie, für eine bessere Zukunft. Auch heute. Und hatte auch sie ihn nicht verstanden? Hatte auch sie nicht gesehen, dass er das alles für sie getan hatte. Aus Liebe? Hatte er auch erst in dem Moment, als sie gegangen war, erkannt, wie wichtig sie eigentlich für ihn war? Wieviel wichtiger als dieser Job. Und als alles andere? Hatte er sie trotzdem einfach ziehen lassen? Weil er geglaubt hatte, dass es das Richtige sei. Wegen der Zukunft. Wegen ihrer Zukunft? War er gleichzeitig auch so verletzt gewesen? So beleidigt. Weil er sich so unverstanden vorkam? Durch sie? War auch sie aus dem Haus gestürmt? Ganz spät noch. Und dann nicht wieder zurückgekommen – zu ihm? Nach Hause?
Hatte sie stattdessen die Nacht bei einer Freundin verbracht und war er ihr erst heute Morgen nachgefahren? Warum war er ihr überhaupt gefolgt und machte ihr sogar einen Antrag? Mitten im Regen – an einer Bushaltestelle – vor seinen Augen? Hatte er schneller erkannt, was für ihn wirklich zählte? Was wirklich wichtig war? Und wer? Und wie unwichtig dieser neue Job wurde, wenn er sie dabei verlieren würde? Hatte er viel schneller begriffen, worum es eigentlich ging? Die Antwort auf den ungewöhnlichen Heiratsantrag hörte er nicht (mehr). Dafür war er zu sehr mit sich und seinen Gedanken beschäftigt. Erst jetzt fiel ihm auf, dass er selbst viel zu leicht bekleidet war für die Jahreszeit. Und für das Wetter. Dass er selbst den Schirm vergessen hatte und darum triefte wie ein begossener Pudel. Dass er fröstelte, weil die frühmorgendliche Kälte sich über die dünnen Sohlen seiner cremefarbigen Leder-Slipper ihren Weg gebahnt hatte und längst an seinen durchnässten Anzug-Hosenbeinen hinaufkroch, um sich über seinen ganzen Körper zu verteilten. Dass sein blaues Oberhemd triefte, weil er die Anzugjacke achtlos über den linken Unterarm geworfen hatte. Weshalb auch diese „pitsch“-nass geworden war. Dass es nach Regen, Abgasen und Urinresten roch unter dem Wartehäuschen. Dass sein Koffer ungeschützt im Regen stand und noch mehr tropfte als er selbst. Dass er sie vermisste. Unsagbar vermisste. Dass er Angst hatte. Angst, sie für immer verloren zu haben. Angst, die Chance seines Lebens verpasst und verpatzt zu haben. Dass seine Schnittwunde wieder angefangen hatte zu bluten und leichte Tröpfchen auf dem Steinboden hinterließ. Weil er gedankenverloren immer wieder über sein Kinn gerieben hatte. Dass seine rechte Hand nach Blut roch. Seinem Blut, das sich wärmend in der unterkühlten
Handfläche ausbreitete, bevor es ebenfalls zu Boden tröpfelte. Und eine Spur im Regen hinterließ. Ein Herz, dachte er bei diesem Anblick. Ein Herz, das vom Regen verwaschen und weggespült wurde und verschwand. Ein Zeichen, dachte er.
Sam war sich nicht sicher, ob es ein gutes Zeichen oder das Zeichen einer kommenden Katastrophe war, aber er wusste … es war ein Zeichen. Ein göttliches Zeichen, geschickt, um seine Aufmerksamkeit zu erregen. Und um
ihn an das zu erinnern, worauf es wirklich ankam – an das Wesentliche, das Einzige mit Bedeutung.


Alle auf dieser und den folgenden Seiten verwendeten Texte und Fotografien sind urheberrechtlich geschützt. Solltest Du diese oder Teile hiervon verwenden wollen, wende Dich bitte an die Autorin – anja@gezittert-gereimt.de – ein Text von Anja Allmanritter, Koblenz