Ein Hauch von Sonnenlicht durchflutete den engen
Korridor. Die ersten Strahlen der aufgehenden Sonne fanden ihren Weg durch die Gitterstäbe der wenigen Fenster, die es im Hochsicherheitstrakt überhaupt gab. Noch reichte ihre Kraft nicht aus, um alles in gleißendes Licht einzuhüllen und diesem Ort damit ein wenig von dem Schrecken und der Finsternis zu nehmen, die dieser
ausstrahlte. Und doch schien es, als gehe von ihnen stets ein Funke der Hoffnung aus, dass auch hier nicht nur Dunkelheit und Trostlosigkeit herrschten. Von der Sicherheitszentrale aus beobachteten die schwer bewaffneten Wärter jede Regung der wenigen, seit Jahren hier einsitzenden, Todeskandidaten. Jeder von
ihnen hatte seine eigene, ganz besondere Geschichte, die denen der anderen nur in einem Punkt immer glich:
in ihrer Brutalität, ihrer Menschenverachtung und dem Tod. Jeder von ihnen hatte auf brutalste Weise das Leben mindestens eines anderen Menschen rücksichts- und gnadenlos beendet. Wer in diesem Trakt eine Zelle gefunden hatte, hatte eine oft jahrzehntelange, kriminelle Vergangenheit hinter sich, die ihn an
irgendeinem Punkt dazu veranlasst hatte, das 5. Gebote zu missachten und sich selbst über das Lebensrecht eines anderen hinweg zu setzen. Hatte er dies besonders grausam oder wiederholt und zudem in einem Bundesstaat getan, in dem die Todesstrafe weiter bestand, dann landete er manchmal hier, im Hochsicherheitstrakt einer der am schärfsten bewachten Justizvollzugsanstalten der Welt. Jeder, der sich in dieser besonderen Welt wiederfand, sei es als Insasse oder Bediensteter, wusste das. Entsprechend
hoch waren die Sicherheitsvorkehrungen für diese
besonderen Gefangenen und entsprechend vorsichtig war der Umgang mit ihnen. Gemeinsamen Hofgang mit anderen, gewöhnlichen Gefangenen, die die Anstalt ebenfalls beherbergte, kannten diese „besonderen“ Insassen nicht. Jeder von ihnen durfte für maximal 1 Stunde am Tag im Hof alleine seine Runden drehen. Da dies in der Regel erst nach dem allgemeinen Freigang der anderen stattfand, war es häufig bereits dunkel, wenn ihnen diese Möglichkeit gegeben wurde. Gleißendes Sonnenlicht war darum für die Insassen hier
noch kostbarer als Zigaretten oder Alkohol.
Entsprechend sehnsüchtig wurde tagtäglich der
Sonnenaufgang in diesem Flügel der Grausamkeiten erwartet. Sobald die aufgehende Sonne es schaffte, sich
mit dem Staub der Luft, dem Mix aus Essens- und
Körpergerüchen jeglicher Art, der Finsternis des Ortes und der in der Luft liegenden, förmlich greifbaren Brutalität zu vereinen, entstand zumindest für kurze Zeit eine beinah gespenstisch-romantisch-böse, in ihrem darin liegenden Zauber einmalige, Atmosphäre. Niemand erwartete diese Zeit täglich mehr als er, der einzige Gefangene im ganzen Knast, dem nicht einmal die Stunde einsamer Hofgang gewährt wurde. So
brutal, so „zermetzelnd“, so sadistisch, so
(selbst)zerstörerisch war er vorgegangen, dass niemand das Risiko eingehen wollte, dass von ihm ausging, sollte er seine Zelle auch nur für einen kurzen Moment – selbst unter strengster Bewachung – verlassen. Mit seinen fast 2 m Körpergröße, seinen über 140 kg
Körpergewicht und seinem zerschlagenen, kantigen, erkennbar schlachterprobtem Gesicht flößte er jedem, der ihn sah, zwangsläufig Angst und Respekt ein. Die gestählte Brust ließ erkennen, dass er sich im Knast und
mit den begrenzten Möglichkeiten, die seine Zelle ihm bot, arrangiert und vor Jahren einen Weg gefunden hatte, sich
auch auf kleinstem Raum körperlich fit zu halten. Die Schwielen und Narben an seinen Händen waren weitere Zeugnisse seiner blutigen Vergangenheit. Er bewohnte die allerletzte Zelle ganz am Kopfende des Flures, zu der das Sonnenlicht immer erst am Ende des
Vormittags durchdrang, wenn es es überhaupt bis
dorthin schaffte. Sein Essen erhielt er stets durch die Klappe. Seine Zelle wurde nur betreten und durchsucht, wenn mindestens die doppelte Mannstärke an Wachpersonal zur Verfügung stand und sein einziger Kontakt zu den Mitgefangenen bestand aus Klopfzeichen an die Gitterstäbe oder Wand, aus Zurufen über den Flur oder dem Erhaschen eines Blickes auf einen der ihren, wenn dieser ausnahmsweise Besuch erhielt und in einen der Besuchsräume geführt wurden. Er selbst kannte keinen Besuch, hatte er doch jeden,
der ihm jemals etwas bedeutet hatte, getötet oder
durch sein Tun auf ewig von sich weggestoßen. Landesweit war er als schlimmster Ripper des
auslaufenden Jahrhunderts berühmt-berüchtigt und selbst die größten Gegner der Todesstrafe hatten sich in seinem Fall dafür eingesetzt, dass diese verhängt wurde. Kein Todeskandidat saß länger in seiner Zelle und wartete dort auf den Tod, als er. Von keinem Gefangenen wusste die Öffentlichkeit weniger über sein früheres Leben vor dem Töten, als von ihm. Und es interessiert auch keinen angesichts seiner Brutalität,
angesichts seiner scheinbaren Wahllosigkeit im
Aussuchen seiner Opfer und angesichts deren
unglaublicher Anzahl. Für alle war er nur der
Massenmörder, der Schlächter, der Blutrünstige, der Spinner, der „Pfeifer“, dessen melodiöses Pfeifen auch an diesem Tag die Stille des Tageseinbruchs und des Ortes durchschnitt. So klar, so rein, so perfekt war sein
Pfeifen, dass jeder neue Bedienstete, der erstmals an diesem Ort eingesetzt wurde, nach dem Sperling zu suchen begann, der sich hierher verirrt zu haben schien. Von den Alt- Eingesessenen wunderte sich dagegen schon längst niemand mehr über sein liebliches Vogelgezwitscher. Die meisten hörten es nach all den Jahren sogar längst nicht mehr. Darum hatte man ihn auch noch niemals gefragt, warum er diesen Vogelgesang so liebte. Niemand erkannte, dass er überhaupt lieben konnte. Niemand kannte die Geschichte hinter dem Vogelgezwitscher. Die Geschichte des 15jährigen Jungen, der den kleinen
Sperling per Hand aufgezogen hatte, weil er ihm vor die Füße aus dem Nest gefallen war. Dem es gelungen war, den kleinen Piepmatz zu zähmen, sogar zu dressieren. Der den kleinen Vogel mehr geliebt hatte, als je ein Wesen zuvor. Des Jungen, dessen betrunkener Stiefvater stets mit der Schnalle seines Ledergürtels auf
die bloße Haut zugeschlagen hatte und dem der Vogel mit seinem durchdringenden Gesang ein so großer Dorn im Auge gewesen war. Des Jungen, der mit ansehen musste, wie eben dieser Stiefvater –  in einem Alkohol benebelten Wutanfall – vor 20 Jahren erst seine Mutter windelweich
geprügelt und dann seinen Vogel mit bloßen Händen geköpft hatte. Des Jungen, der an diesem Tag erstmals einen anderen Menschen getötet und dabei Befriedigung und Macht verspürt hatte. Des Jungen, der seit Jahren einsam in der Todeszelle saß, jeden Sinn im Leben verloren hatte – schon am Tag des Todes seines Vogels. Dessen einziges Glück aus der Erinnerung an das Zwitschern des Sperlings bestand. Des Jungen, der sein eigenes Pfeifen seit damals bis zur Perfektion verbessert hatte, in der traurigen Hoffnung, seinem toten Freund so näher zu sein. Auch an diesem Tag durchbrach ein Pfeifen die unendliche Stille dieses düsteren Ortes. Doch es war nicht das Pfeifen dieses besonderen
Gefangenen, das man hörte. An diesem Morgen war ein Spatz den ersten Sonnenstrahlen gefolgt und hatte sich, wie auch immer, durch die schmalen Gitterstäbe des winzigen Trakt-Fensters hindurchgezwängt, auf der inneren Fenstersims-Seite Platz genommen und zu singen begonnen. Niemandem fiel der Vogel auf.
Niemandem, außer dem Vogelfreund-Knacki. Schon beim ersten Ton des Piepmatzes war er hellhörig geworden und an die Gitterstäbe seiner Zelle gesprungen, in der Hoffnung, zumindest einen kurzen Blick auf den Sänger zu erhaschen. Beinahe schien es, als habe der Vogel auf dieses Zeichen gewartet, weil der Spatz in dem Augenblick, als sein Bewunderer an die Gitterstäbe getreten war, vom Sims startete und unmittelbar in die letzte Zelle des Flures geflogen kam.
Unbemerkt trippelte er, völlig angstfrei, zwischen den Gitterstäben hindurch und nahm in der  mit Schwielen überzogenen Hand des Zellenbewohners Platz. Sanft wie eine Katzenmutter, die ihr Junges vorsichtig ableckt
und dann schützend in die richtige Richtung stupst,
hielt der eingesperrte Riese den kleinen, unverhofften Besucher in der Hand. So behutsam war er dabei, dass sich sein Gast sicher fühlte, in seine Hand versinken ließ und aus
tiefster Seele das schönste Lied des Sommers zu
zwitschern begann. Nachdem er wenige Minuten so gesungen hatte, blickte der kleine Vogel seinem
Gegenüber für den Bruchteil 1 Sekunde tief in die
Augen und erhaschte dabei einen Blick auf dessen
schwarze und eigentlich doch so verletzliche Seele. Er pickte ihm ein letztes Mal kurz liebevoll-vertraut in die Hand und flog, von allen anderen unbemerkt, wieder davon. Zurück blieb er, der Schlächter, das Monster, mit Tränen in den
Augen, leise schluchzend und tief bewegt. So
beeindruckt war er von dieser kurzen Begegnung, dass er erst im letzten Moment bemerkte, dass sich zwei Wachmannschaften seiner Zelle näherten. Ein Pfarrer begleitete sie.“ Es ist wohl soweit“ und „Das Warten, das jahrelange Warten soll nun scheinbar ein Ende haben“, dachte er. Er wischte sich die letzte Träne vom Gesicht, kämmte sich sein fast kahl geschorenes Haupt
gewohnheitsmäßig noch einmal, warf einen prüfenden Blick in den Spiegel und folgte pfeifend der Menschentraube hinaus in den Zellengang.


Alle auf dieser und den folgenden Seiten verwendeten Texte und Fotografien sind urheberrechtlich geschützt. Solltest Du diese oder Teile hiervon verwenden wollen, wende Dich bitte an die Autorin – anja@gezittert-gereimt.de – ein Text von Anja Allmanritter, Koblenz