Es stürmte schon wieder. Regentropfen prasselten gegen die Scheiben. Die Luft war heiß und drückend. Man konnte ihn riechen, den Regen. Selbst mit geschlossenem Fenster und trotz der Essensdüfte, die noch in der Luft lagen. Und spüren, die Feuchtigkeit, die er mitbrachte und die sich auf allem und jedem verteilte. Nicht der erste Sturm, dem sie trotzte, dachte sie. Die Stürme des Lebens sah man ihr nicht an. Trotz ihres mittlerweile reifen Alters war sie noch immer eine
gutaussehende Erscheinung. Mittelgroß, schlank, mit jugendlichem Pagenschnitt, der ihr ebenmäßiges Gesicht mit den feinen Zügen, dem vollen Herz-Mund und den tiefschwarzen Reh-Augen gekonnt betonte. Ihr Anblick ließ erahnen, welch eine Schönheit sie in ihrer Jugend gewesen sein musste. Die leichten Grau-Strähnen in ihrem schwarz gefärbten Haar verliehen ihre eine distinguierte Würde, die sie beinahe überirdisch auf andere wirken ließ. Wie eine Fee sah sie aus. Wie eine Heilige. Eine Königin. Für die es keine Hindernisse gab. Und nichts, womit sie nicht fertig werden konnte. Die nichts erschüttern konnte. Die unantastbar war. Bewundernswert. Verehrt. Auf Händen getragen. Das sagten jedenfalls ihre zwei besten Freundinnen regelmäßig. Früher hatte er das immer zu ihr gesagt, war nicht müde geworden, dies immer wieder zu tun. Früher … Heute sagten sie es ihr und sie wollte ihnen so gerne glauben.
Und doch fiel es ihr mit jedem Tag schwerer, nicht das genaue Gegenteil davon zu fühlen. An diesem Tag fluchte sie leise vor sich hin, als ihre Hände sich zwischen den erkalteten Nudel- und Fleisch-mit-Soße-Resten, dem Öl der Salatsoßen-Rückstände und den Pudding-Vanille-Soße-Stückchen den Weg zum Spüllappen bahnten.

Königin? Wohl eher Kammerzofe, dachte sie und scheiß Stromausfall, als wäre das Leben nicht schon
kompliziert genug, dachte sie, während sie zum wiederholten Male ihre Hände in die Spülschüssel mit dem Geschirr der letzten zwei Tage steckte. Kaltes Wasser, Essensreste und Spülmittel, ekelhaft, dachte sie, einfach ekelhaft. Und dazu der Duft-Mix aus Essen, Reiniger und Regen, der die ohnehin tropisch-schwüle Luft zusätzlich schwängerte und das freie Durchatmen
weiter erschwerte. Stickig, heiß, abstoßend, dachte sie und spülte angewidert weiter. Womit hatte sie das verdient, fragte sie sich. Und das alles nur wegen des Gewitters, das am Vorabend den Stromverteiler des Viertels lahmgelegt hatte, ärgerte sie sich. Wieso dauerte die blöde Reparatur dieses Dings auch so lange, fragte sie sich. Und das heutzutage. Fliegen zum Mond, können aber einen Verteilerkasten nicht wieder ans Laufen bringen, dachte sie und spülte weiter. Mit kaltem Wasser und Spülmittel. Ekelhaft, einfach ekelhaft, dachte sie. Wenn sie die Spülmaschine wenigstens vor dem Blitzeinschlag
noch hätte laufen lassen, dann hätte ihr Abwasch nur aus dem Frühstücksgeschirr bestanden, aber so … fluchte sie leise vor sich hin. Hausarbeit – die modernste Form der Sklaverei – unbezahlt, nicht gewürdigt und nie lange sichtbar, dachte sie, als sich eine dicke Fischgräte unter ihren Ehering bohrte. Fisch? Wieso Fisch? Heute hatte es doch … dachte sie, bis ihr das gestrige Abendessen wieder einfiel. Mist, dachte sie, wahrscheinlich hatte er seinen Teller wieder mit allen Resten in die Maschine gestellt, anstatt diese abzukratzen und in den Mülleimer zu werfen.
Er, der feine Herr Direktor, aus vornehmem Haus, dessen äußere Erscheinung deutlich stärker in die Jahre gekommen war als ihre eigene. Bei dem nur noch wenig an den stattlichen, sportlichen, sonnengebräunten BWL-Studenten aus reichen Verhältnissen erinnerte, der ihr schon im ersten Semester aufgefallen war – mit seinen weiß-blonden, perfekt geschnittenen Haaren, den strahlend weißen Zähnen, den tiefblauen, klugen Augen und dem Grübchen links unterhalb der perfekt geschnittenen Nase. Seine sportliche Figur war längst einem mittel-großen Wohlstandsbauch gewichen und die Jahrzehnte lange Qualmerei hatte ihre Spuren auf Zähnen und Haut hinterlassen. Gegerbte Leder-Haut mit „Plautze“, eingehüllt in Maßanzug, Zigaretten-Duft-Arroganz-Aftershave. Und Rücksichtslosigkeit. Aber so war er eben und die Spülmaschine musste es ausbaden. Ein Wunder, dass diese nicht alleine wegen seiner Essensreste andauernd ausfiel, sondern nur wegen eines Stromausfalls streikte. Ich würde öfter streiken, wenn ich sie wäre, dachte sie. Obwohl, eigentlich bin ich die Spülmaschine, zumindest bis auf Weiteres. Und die Putzfrau. Und die Köchin. Und die Bügelwäschefrau. Und der … Fußabtreter, dachte sie und versuchte, die verdammte Fischgräte unter dem Ring wieder los zu werden.  Wahrscheinlich stank diese noch nach seinen filterlosen Zigaretten, dachte sie. Und dass das Ausziehen des Rings gar nicht so leicht war, so eng wie dieser an ihrem Finger saß. Bis ihr der Seifen-Trick ihrer Mutter wieder einfiel. Seife oder Spülmittel – ganz egal, dachte sie und begann, den flüssigen, glitschigen Reiniger unter die Fessel an ihrem Finger zu schmieren. Vorsichtig, damit die dämliche, stinkende Fischgräte sie
nicht auch noch verletzte. Spülmittel, wer hat das heute überhaupt noch im Haus, fragte sie sich. Die Flasche war vom letzten Besuch der Mutter übriggeblieben, der auch schon wieder Monate zurück lag. Mutter, dachte sie, Mutter, die darauf bestand, den Zahnputzbecher, ohne den sie niemals verreiste, morgens und abends nach dem Gebrauch zu spülen. Mit Spülmittel.
Unbedingt. Nachdem sie die ersten Jahre noch versucht hatte, gegen deren Macke zu rebellieren, indem sie einfach kein Spülmittel im Haus hatte, wenn ihre Mutter anreiste, hatte sie mittlerweile auch in dieser Beziehung resigniert. Bevor sie wieder ihre eigene Spüli-Flasche mitbringt und demonstrativ hier vergisst, dachte sie und schmierte weiter. Außerdem war es dieses Mal ein glücklicher Zufall, dass noch etwas von dem Zeug übriggeblieben war, musste sie zugeben, als sich der breite, gelbgoldene Ring mit den drei Diamantsplittern doch noch irgendwann von ihrem rechten Ringfinger löste und in die Spülschüssel glitt. Mitten in den Sumpf aus kaltem Wasser, Spülmittel und … Essensresten.
Und der Fischgräte. Man, die war riesig, dachte sie und dann unter dem engen Ring. Echt unangenehm, zumindest mit dem Ring zusammen – eng wie er geworden ist, dachte sie. Am Anfang, da hatte er nicht so eng gesessen, sich nicht in ihre Haut geschnitten. Sie hatten ihn zusammen mit seinem gemeinsam ausgesucht. Aber nur ihrer hatte einen Diamantsplitter enthalten – genau in der Mitte. Er hatte damals mit leuchtenden Augen gesagt, der Diamant stehe für die Reinheit seiner Liebe zu ihr. Damals. Und sie hatte ihm geglaubt. Und sie gesehen, seine Liebe – in seinen Augen.

In den folgenden Jahren waren links und rechts von diesem zwei weitere, etwas kleinere Steine
hinzugekommen. Einer für jedes Kind. Für dich, unsere kleine Familie und unsere Liebe, hatte er damals gesagt. Und sie hatte ihm auch das geglaubt. Damals.
Doch das war lange her – sehr, sehr lange her.

Die Kinder gingen längst eigene Wege und sie … Sie hatten sich verändert. Irgendwie. Waren beide etwas … ausladender geworden, darum saß auch der Ring heute deutlich fester am Finger. Enger.
Viel enger, dachte sie und fischte ihn aus der kalten, dreckigen Lauge vor sich. Daran musste es liegen – woran auch sonst, flüsterte sie leise vor sich hin. Die einzelne Träne, die ihr bei dem Gedanken an damals über die rechte Wange lief, wischte sie hastig mit dem linken Handrücken weg. Woran auch sonst, wiederholte sie noch einmal traurig. Gedankenverloren legte sie ihn auf der Fensterbank ab, den goldenen Rind. Einer, um sie alle zu knechten, kam es ihr in den Sinn. Wo sie das gehört hatte, fragte sie sich, doch die Antwort darauf fiel ihr nicht mehr ein. Wie wahr, dachte sie, wie wahr und drehte ihn noch einmal, bevor sie ihn dort endgültig platzierte. In ihrer Hand hatte er sich glühend heiß angefühlt, dachte sie und rieb ihre
Handinnenflächen wie nach einem Griff auf eine heiße Herdplatte. Heiß – glühend – verletzend – eng, dachte sie. Auf dem Fensterbrett neben der Spüle, da lag er gut, dachte sie. Dort würde er nicht verloren gehen, dachte sie, würde sie nicht weiter behindern und einengen und spülte weiter. Mit bloßen Händen. Und kaltem Wasser mit Spülmittel. Die Essensreste hatten mittlerweile die Seifenlauge derart verdreckt, dass sie das Wasser ablaufen lassen musste, um frisches
nachlaufen lassen zu können. Sie verstopften in Sekundenschnelle den Ablauf. Jetzt hat er schon wieder das Abflusssieb weggelassen, dachte sie, weil er ja nie spülte. Ich eigentlich sonst auch nicht, dachte sie und ärgerte sich trotzdem darüber. Schließlich konnte sie jetzt all den Dreck mit ihren Fingern aus dem Abfluss „puhlen“ und den ganzen glibberigen, kalten, öligen Klumpen danach entsorgen. Außerdem stach sie bei der Gelegenheit die elende Fischgräte doch noch, bevor sie auch diese wegwerfen konnte. Ganz so, als wolle sie ihr sagen: und ich kriege dich trotzdem – und ihr dabei die Zunge rausstrecken. Zumindest kam es ihr in diesem Moment so vor, als sich die übrige, glitschige Masse zwischen ihren Fingern der
rechten Hand verrieb, festklebte, jede einzelne Hautfalte füllte und sich nur ganz langsam wieder mit einem Küchentuch ablösen ließ. Zurück blieb ein kalter, stinkender, alles überziehender Film auf der Haut. Ekelhaft, dachte sie, einfach ekelhaft. Und kein warmes Wasser zum Hände waschen.
Aber egal, bin ohnehin noch nicht fertig, dachte sie und tauchte mit beiden Händen erneut in das – jetzt wieder frische – Spülwasser ein. Dieses Mal empfand sie die reinigende Kraft des Spülmittels als Befreiung von den Resten auf ihrer eigenen Haut und die Kälte des Wassers erfrischte sie mehr, als dass sie sie abstieß.

Ohne die ganzen Essensrest darin war die Spülschüssel gar nicht so widerlich, stellte sie fest und verfolgte gespannt die vielen kleinen Seifenbläschen, die sich in bunten Regenbogenfarben in dieser bildeten, einige Zeit auf der Wasseroberfläche trieben und dann – eine nach der anderen – mit einem leisen „Plopp“ wieder zerplatzten. Da gehen sie hin, dachte sie, genau wie mein Leben. Wie viele hunderte Male hatte sie mit ihren Kindern selbst Seifenblasen aufsteigen lassen. Hatte sich mit beiden überlegt, wohin deren Reise wohl gehen werde und welche Abenteuer sie dabei wohl erwarteten. Viele
von ihnen waren noch vor ihren Augen wieder zerplatzt. Aber manchmal, wenn eine von ihnen in den Himmel aufgestiegen und tatsächlich davongeflogen war, dann hatten sie sich Gedanken zu ihren Reisen gemacht. Und sie hatte den Kleinen abends dazu Gute-Nacht-Geschichten erfunden, die diese so liebten.
Ab und zu hatte er sich zu ihnen gesetzt und zusammen mit den Kindern ihren Geschichten gelauscht. Später hatte er ihr dann immer gesagt, wie sehr er es liebe, ihr bei diesen Gelegenheiten zuzusehen und zuzuhören. Und auch das hatte sie ihm geglaubt. Damals. Eigentlich wollte ich diese Geschichten immer mal aufschreiben, dachte sie und räumte neues Geschirr in die Schüssel. Aber egal, dachte sie, als dabei sämtliche Seifenbläschen auf einmal platzten. Platzt ihr ruhig, dachte sie, so ist das Leben. Eures und meins. Ist wohl normal, geht jedem so, glaubte sie und wischte über den letzten schmutzigen Teller. Wieder Gräten, sah sie. Eine von euch sind schon zwei zu viel, fluchte sie und schnipste sie mit Daumen und Zeigefinger in Richtung Grünmülleimer. Abgerutscht, Dreckding, quietschte sie vor Schmerz, als sich der lange, spitze Splitter widerspenstig want und sich dabei ganz tief unter den Rand ihres Daumennagels bohrte. Und abbrach. Der Schmerz trieb ihr die Tränen in die Augen. Pochend und heiß drückte sich der Fischknochen immer tiefer und tiefer in ihr Nagelbett. Alle schmerzverzerrten
Versuche, den Fremdkörper zu entfernen, scheiterten.
Als weder Nadel, noch Pinzette, noch das Nagelkürzen mit einem Nagelknipser funktionierten und der Schmerz im Daumen zu explodieren drohte, warf sie die Küchenschürze auf den Stuhl an der kleinen Küchentheke, ließ Abtrocknen Abtrocknen sein und rannte – noch mit Filzpantoffeln bekleidet – die drei Querstraßen entlang zu der Hausärztin, die gemeinsam mit ihnen alt geworden war.
Erst als der Nagel – unter Betäubung – gezogen und der Grätenrest entfernt war, bekam sie wieder Luft zum Atmen. So heftig war der Schmerz an der rechten Hand gewesen, dass sie geglaubt hatte, ersticken zu müssen.
Mit einem festen, eng in Mullbinden gewickelten Daumen und der Aufforderung, sich zu schonen, kehrte sie in ihre Küche zurück. Das Geschirr war zwischenzeitlich von selbst getrocknet und das Wasser hatte sich durch den undichten Abfluss-
Stöpsel selbst abgelassen. Wenigstens hier bin ich für’s Erste fertig, dachte sie. Ihr Blick fiel auf das Spülmittel- Fläschchen, das sie vom Beckenrand unverschämt angrinste. Selbst schuld, schien es ihr zuzurufen, selbst schuld.
Was weißt du schon, dachte sie und räumte die Flasche in den Unterschrank der Spüle.
Auf der Fensterbank glänzte der Ehering im Sonnenlicht.
Ich will zurück, rief er ihr zu. Mit der linken Hand griff sie nach dem Schmuckstück, das sie Jahrzehnte lang nicht abgenommen hatte und das noch immer am rechten Ringfinger gesessen hätte, wenn das Gewitter nicht gewesen wäre. Und der Stromausfall. Und die Gräte. Diese dämliche Gräte. Seine Gräte. Seine Gräten, dachte sie und spürte in den wiederauflebenden, klopfenden Schmerz im rechten Daumen hinein. Mist, die Betäubung lässt nach, erkannte sie. Verdammt eng, der Verband, dachte sie und fühlte, wie dieser die Blutzufuhr fast zu unterbrechen drohte. Aber nur fast. Verdammt eng,
dachte sie und seine Gräten, dachte sie. Seine Gräten und versuchte weiter, den Ring an seinen angestammten Platz zurückkehren zu lassen.
Wieder brannte sich das Edelmetall glühend-heiß in ihre Handfläche. Verdammt, dachte sie, aber egal – hilft ja nichts. Schmerzverzerrt rieb sie über die scheinbar verbrannte Hautstelle.
Dann versuchte sie noch einmal, den Ring anzuziehen. Doch er, der sich zuvor nur mühevoll und mit Seifenlauge überhaupt hatte abstreifen lassen, er wollte nicht wieder über das zweite Fingergelenk rutschen. Er steckte bereits kurz unterhalb des Fingernagels fest – weiter Überstreifen ging nicht.
Mist, dachte sie, ich wusste, dass er eng ist. Aber so eng? So eng – das hätte ich nicht gedacht.
Spülmittel und dann zurück auf den Finger, überlegte sie kurz und verwarf den Gedanken daran sofort wieder, weil der Daumenverband nicht nass werden durfte und sie sich daher die Hände nicht wieder gründlich hätte waschen können.
Zu eng ist halt zu eng, dachte sie und legte den Ring zurück auf die Fensterbank. Zwischen Gießkanne und Kräutertöpfchen.
Einer, um sie alle zu knechten, dachte sie.
Sie blickte noch einmal zurück auf Geschirr und Ring, hängte mit der linken Hand die Schürze an den Haken hinter der Küchentüre und ging, Elfengleich verließ sie die Küche und blickte nicht mehr zurück.


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