Sie saß bereits seit Stunden gedankenverloren an ihrem Sekretär und betrachtete versonnen ein vergilbtes Fotoalbum nach
dem anderen.
Eigentlich hatte sie zu ihrem diamantenen Hochzeitstag nur nach einem ganz bestimmten Bild gesucht, das zeigte, wie sie mit
ihm zum ersten Mal getanzt hatte, damals zur Osterkirmes.
Das waren noch Zeiten, dachte sie und lächelte versonnen als sie das Foto fand.
Damals hatten wir noch Träume, waren unerfahren und entsprechend naiv, dachte sie.
Keine Falte hatte sich tief in unsere Gesichter gegraben, weder Lachfältchen der Unbekümmertheit und Lebensfreude, noch
Kummer – und Sorgenfalten als ewig sichtbares Mahnmal der erlebten Schicksalsschläge.
Wieder huschte ein Lächeln über ihr Gesicht.
Sie hatten beide geglaubt, die ganze Welt aus ihren Angeln heben zu können und entsprechend gegen so viele Konventionen
rebelliert, über die die heutige Jugend nur noch müde lächeln würde.
Wer stößt sich in Zeiten des legalen Cannabiskonsums noch an einer – heimlich im Männerklo – gepafften, geteilten Zigarette,
und das noch nicht mal über die Lunge.
Komische Welt heute, dachte sie und konnte ihn noch förmlich auf der Zunge schmecken, den brennend – bitteren
Geschmack des von ihm selbst in der Scheune gebrannten Kräuterschnapses.
Der mit den über 40 % Alkoholgehalt und der Prise Beifuß und gelber Enzian zu viel, weshalb die, eigentlich erwünschte, Anis –
Lakritz – Note untergegangen und nur ein erdig, Majoran ähnliches Muffigkeitsgefühl im Mund übriggeblieben war.
Beim heutzutage salonfähig gewordenen SchulKinderKomaSaufen würde sich wohl in 70 Jahren keiner der Jugendlichen mehr
derart genau an das Gaumenerlebnis seines ersten Schlucks Hochprozentigen erinnert, war sie sicher.
Sie schloss die Augen und spürte seine verbotene, so heiß ersehnte, erste Berührung an ihrem Oberschenkel.
Wie zufällig hatte er sie leicht gestreift und einen Augenblick lang seine Hand zu lange dort liegen lassen.
Zu lange für eine unbewusste Berührung.
Sie fühlte das Brennen auf ihrer Haut wie gestern, ihr wildes Verlangen nach einem ersten, sanften Kuss auf ihren
geschlossenen, spitz nach vorne gerichteten Lippen.
Das war damals das höchste der – ohnehin verbotenen – Gefühl gewesen.
An einen Zungenkuss, ein echtes Streicheln oder sogar mehr war damals gar nicht zu denken gewesen.
Ihr Herz bebte bei der Erinnerung daran, wie sie später vom Vater erwischt worden waren als er sie – nach der vereinbarten
Zeit – von der DorfKirmes zur Hintertüre ihres Elternhauses begleitet und dabei mit ihr Händchen gehalten hatte.
In dieser Nacht und in den drei folgenden Nächten hatte sie kein Auge zugemacht, erinnerte sie sich.
Was einerseits an ihrem verliebt – schlechten Gewissen gelegen hatte, das heute schon keine Grundschülerin mehr teilen
würde, geschweige denn eine vergleichbare 18 – Jährige.
Und andererseits an ihrem – von mehreren RohrStockSchlägen feuerrot-brennenden – Hinterteil, für das ihr – Nächte lang an
der Moral der Jugend zweifelnder – lautstark zeternder Vater verantwortlich war.
Dein Vater hat sich erst wieder beruhigt, nachdem ich dir offiziell meine Aufwartung bei ihm gemacht und kurz darauf um
deine Hand angehalten habe, sprach er und legte von hinten seine greise, knochige Hand, die noch lebensgegerbter war als
ihrer beiden Gesichter, auf ihre Schulter.
Sie drehte sich um, griff nach seiner so vertrauten Rechten, schaute ihm in die leicht trüb gewordenen, aber noch immer
wachen, klugen, vor Liebe strahlenden, blauen Augen und fragte ihn, ob er es je bereut habe.
Er löste sich von ihrer Schulter, streichelte zart über ihre hohen, faltigen Wangenknochen, küsste sie – soviel intensiver als
damals hinter dem Festzelt – und sprach:
Nicht eine Sekunde – bis heute.
Ich habe mich damals im ersten Augenblick in dich „Langstrumpf“ – Schönheit verliebt, hast seither für mich nichts von
deiner Schönheit verloren und ich liebe dich heute mehr als jemals zuvor.
Danke für jeden gemeinsamen Moment, jedes Lachen, jedes Weinen, jeden glücklichen und jeden traurigen Augenblick mit
dir.
Sie lächelte ihn an und sagte nur „Alter Charmeur“ und „Dito“ – so wie in dem Liebesfilm, in den sie gemeinsam gleich drei Mal
in den 80igern ins Kino gegangen waren, weil er ihr so gut gefallen hatte.
Kein anderes cineastisches Highlight hatte sie jemals wieder derart verschwenderisch sein lassen.
Er grinste schelmisch und sah dabei fast wieder so spitzbübisch aus wie der Oberprimaner auf dem Foto vor ihr und sagte:
“Was meinst du, „Sam“, wollen wir es uns jetzt gutgehen lassen und … na, du weißt schon …?“
Sie stand auf, reichte ihm ihre Hand und gemeinsam schlurften sie Richtung Schlafzimmer.
„Haben wir nicht ein unverschämtes Glück, wir Zwei?“, fragte er und schloss die Türe, noch bevor sie antworten konnte, dass
er wohl sein Glück mit ihr meine.
Und während draußen der erste richtige Herbststurm die letzten Blätter von den Bäumen fegte, hörte man drinnen zwei Alte
lauter giggeln als eine Klasse SexTaner …
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